Liebe Natascha – Deutsche/German Edition

Liebe Natascha,

Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir uns kennengelernt haben – als wäre es erst gestern gewesen. Ich hatte gerade meine allererste Gruppentherapiesitzung begonnen, und da sah ich dich in dem Kreis aus Stühlen sitzen. Der Platz neben dir war frei, und ich entschied mich, ihn zu nehmen. Während der Sitzung mussten wir dann eine Übung mit einem Partner machen. Die Aufgabe war, unsere Stärken aufzuschreiben. Eine deiner Stärken war „eine gute Freundin sein.“ Heute frage ich mich, ob du das vielleicht absichtlich gesagt hast, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. 😉

An diesem Tag nieselte es, und nachdem die Sitzung vorbei war, standest du an der Seite des Gebäudes, unter dem kleinen Schutz, den das vorspringende Dach bot, und rauchtest eine Zigarette. Ich zündete mir auch eine an, stellte mich neben dich und stellte mich vor. Wir redeten miteinander, als wären wir keine Fremden, und fanden heraus, dass wir denselben Bus nehmen würden. Also stiegen wir gemeinsam ein, saßen wieder nebeneinander und stellten fest, dass wir an der gleichen Haltestelle aussteigen würden. Wir wohnten sehr nah beieinander. Und wir würden uns beim nächsten Gruppentreffen in der folgenden Woche wiedersehen. Es fühlte sich fast wie Schicksal an.

War es nicht auch unglaublich cool, als wir herausfanden, dass du meinen Mann aus Kanada tatsächlich schon einmal gesehen hattest? Als er mich 2013 besuchte, begleitete er mich zu meiner Therapeutin, und im Wartezimmer gegenüber von uns saß – niemand anderes als du! Ich war damals zu abgelenkt, um dich zu bemerken, aber Leeman hatte dich definitiv gesehen. Später, als ich ihm erzählte, wer du bist, war er begeistert, dass er dich tatsächlich schon einmal gesehen hatte. Wieder fühlte es sich wie Schicksal an – als ob es vorherbestimmt war, dass du auf mich und mein Herz aufpasst, während ich mich darauf vorbereitete, in ein paar Jahren nach Kanada zu ziehen. Als ob ich dieses eine große Geschenk – diese Freundschaft – bekommen hätte, um sie mit in mein neues Leben zu nehmen.

Unsere Freundschaft entwickelte sich innerhalb weniger Tage, vielleicht ein paar Wochen. Wir verbrachten so viel Zeit miteinander – tranken Kaffee, gingen einkaufen, ließen uns zusammen die Ohren piercen und aßen gemeinsam zu Abend. Als ich meinen Job in der Bibliothek bekam, kamst du mit mir, um den Ort vorher auszukundschaften und die beste Route dorthin zu finden. Als ich auf der Suche nach einem Hund zur Adoption war, gingst du mit mir ins Tierheim, um zu sehen, wer verfügbar war. Wann immer ich Unterstützung brauchte und jemanden an meiner Seite wollte, warst du da. Du warst immer für mich da, und das werde ich niemals vergessen!

Heutzutage wünschte ich, es wäre genauso einfach, Freunde zu finden, wie es damals war, als ich dich fand! Aber egal, wen ich in Zukunft finde und als Freund bezeichne – und das gilt auch für alle anderen Freunde, die ich bereits habe – niemand kann dir das Wasser reichen. Keine andere Beziehung, egal wie lange sie andauert, kann mit den drei Jahren mithalten, die wir zusammen in Kiel verbracht haben, und mit unserer lebenslangen Verbindung.

Wir sind verbunden wie Schwestern, die sich füreinander entschieden haben. Wir sind uns in vielem ähnlich, und doch sind wir auch unterschiedlich. Wir können voreinander verletzlich, albern, nervig oder schwach sein, ohne Angst vor Verurteilung, Verrat oder Verlassenwerden. Wir waren wirklich sicher in der Gegenwart der anderen.

Unsere Verbindung wird für immer bestehen, selbst wenn wir eine Weile nicht miteinander gesprochen haben. Selbst wenn ich von jetzt an bis zum Ende meines Lebens kein einziges Wort mehr mit dir wechseln würde, wärst du immer noch diejenige, von der ich wüsste, dass ich sie um Hilfe bitten könnte. Und das Gleiche gilt für dich – ich hoffe, du weißt das.

Ich war an deiner Seite, als dein erstes Kind geboren wurde, und ich war die Erste nach dir, die sie in den Armen hielt. Und du – du warst die Einzige, die mich ermutigte, als ich ging und nach Kanada zog.

Ich werde niemals vergessen, wie du mich mit meiner Patentochter besucht hast, um dich zu verabschieden. Fast die ganze Zeit, die du in meiner Wohnung warst, hast du mich angelächelt. Wir wussten beide, dass dieser Tag kommen würde, aber du warst die Einzige in meiner Familie, die niemals Traurigkeit oder Selbstmitleid darüber zeigte, dass ich ging. Du hast dich besser zusammengehalten als ich, als es an der Zeit war, sich zu verabschieden. Ich gab Anna das kleine Stofftier, das Leeman mir geschenkt hatte, und dann sagten wir Lebewohl. Jetzt, wo ich daran zurückdenke, füllen sich meine Augen mit Tränen. Ich sehe noch genau vor mir, wie ihr beide aus meinem Garten in Richtung der Bushaltestelle gegangen seid – die gleiche Haltestelle, an der wir drei Jahre zuvor nach dieser schicksalhaften Busfahrt ausgestiegen waren.

Du warst so tapfer, dass ich fast vergaß, dass nicht nur ich meine engste Freundin verloren hatte – für dich was es das Gleiche Schicksal. Später hast du mir erzählt, wie sehr du mich vermisst hast und dass das Leben ohne mich schwieriger war, aber nie hast du deinen Schmerz auf eine Weise geäußert, die mir Schuldgefühle machen sollte. Das ist es, was ich an dir so sehr schätze und was dich meilenweit über meine Blutsfamilie stellt – die im Vergleich zu dir allesamt egoistische Idioten sind.

Ich vermisse dich auch – mehr als ich sagen kann. Besonders in den ersten Jahren nach meinem Umzug nach Kanada, als ich niemanden außer meinem Mann und seiner Familie hatte, sehnte ich mich wirklich danach, dich an meiner Seite zu haben. Ich habe mich immer gefragt, wie es dir geht, wie du zurechtkommst. Wo immer ich hinging, wann immer ich etwas Neues und Aufregendes an meiner neuen Heimat entdeckte, wollte ich es so sehr mit dir teilen. Ich wollte dieses neue Land, diese riesigen Städte mit all ihren Wundern und Möglichkeiten, mit dir zusammen erkunden.

Ich wünschte, es gäbe passende Worte, um dir zu sagen, wie viel du mir bedeutest. Falls es sie gibt, kann ich sie nicht finden. Nichts, was ich über mein Vermissen oder darüber sage, wie sehr du mein Leben bereichert hast, scheint mir ausreichend zu sein.

Deshalb sage ich dir das: Natascha, ich werde dich für immer lieben.

Deine Schwester

 

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *